Tradition (Jesus, Judentum und Datenschutz)

Das meiste, was Menschen tun, ergibt irgendeinen Sinn, hat einen sinnvollen Grund, wieso es getan wird. Es ist aber auch so, dass menschliche Handlungsweisen die Tendenz haben, sich manchmal zu Traditionen zu entwickeln, das bedeutet, dass die Handlungsweise weitergeführt wird, obwohl der eigentliche Grund gar nicht mehr unbedingt besteht. Traditionen können ein Eigenleben entwickeln und sich so verändern, dass eine Verbindung zum ursprünglichen Grund gar nicht mehr existiert, vielleicht sogar gar nicht erkennbar ist oder der ursprünglichen Intention sogar zuwiderläuft.

Sehr schön sieht man das bei religiösen Traditionen. Der jüdische Glaube ist eine wahre Fundgrube an Traditionen, die ein Eigenleben entwickelt und sich nicht nur verändert haben, sondern durch permanente Neuinterpretation und Ausweitung geradezu absurde Auswüchse gebildet haben.

I can haz cheezburger?

So gibt es in den jüdischen Speisevorschriften eine strikte Trennung zwischen „fleischigen“ und „milchigen“ Speisen. Isst man eine Mahlzeit, in der Fleisch in irgendeiner Form enthalten ist, so darf man für mehrere Stunden keine Mahlzeit zu sich nehmen, die Milch- oder Milchprodukte enthält. Ein Cheese-Burger kommt für einen gläubigen Juden also nicht in Frage.

Das ist aber noch nicht das Ende. Inzwischen hat sich eine Tradition gebildet, dass fleischige und milchige Speisen überhaupt nicht miteinander in Berührung kommen dürfen. Das geht so weit, dass streng praktizierende jüdische Haushalte zwei separate Sets Geschirr, zwei Sets Bestecke und zwei Sets Kochtöpfe besitzen, jeweils einmal für fleischige und einmal für milchige Speisen. Die Geschirre, Bestecke und Töpfe sind gekennzeichnet, damit man eines davon nicht ausversehen im falschen Kontext verwendet. Teilweise existieren sogar getrennte Geschirrspülmaschinen.

Zurück geht diese Trennung auf einen Vers in der Thora: “Und sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Mutter Milch” (Exodus 23,19) Nach aktuellem Stand der Wissenschaft gab es zur Zeit der Entstehung dieses Verses eine benachbarte Volksgruppe, die tatsächlich als Teil ihrer religiös-kulturellen Tradition zu bestimmten Anlässen eine junge Ziege in der Milch der Mutter kochte. Bei dem Bibelvers handelt es sich also um ein Verbot, einen Ritus einer konkurrierenden Religion zu praktizieren. Sinnvollerweise erscheint der Bibelvers demnach auch nicht im Kontext sonstiger Speisevorschriften, sondern im Kontext von Vorschriften zu Opfergaben und religiösen Festen. Die heute daraus entstandene radikale Trennung zwischen fleischigen und milchigen Speisen hat mit dem ursprünglichen Zweck der Regel gar nichts mehr zu tun.

Sabbat

Ähnlich beim Gebot der Sabbatruhe. Der Zweck, einen Tag in der Woche zu haben, der der Erholung dient, ist nachzuvollziehen, und auch heute haben wir ja im Grundgesetz, ganz unabhängig vom religiösen Motiv das Konzept eines Tages der Erholung und Arbeitsruhe verankert.

Im orthodoxen Judentum haben sich in der Zwischenzeit die Regelungen, die die Einhaltung der Arbeitsruhe (vor allem den Schutz von Sklaven, Knechten und Ehefrauen) garantieren sollten, verselbständigt. Das Verbot, Feuer zu machen, wird heute auch auf das Einschalten elektronischer Gerätschaften angewendet. Dabei wird nur die  Regel wörtlich ausgelegt und nicht der ursprünglich dahinter stehende Sinn verfolgt. Was dazu führt, dass dann z.B. in Hotels Fahrstühle eingerichtet werden, die den Sabbat über einfach immer laufen und jedes Stockwerk anfahren; denn das Betätigen von Bedienknöpfen am und im Aufzug würde ja elektrische Signale erzeugen, was als „Feuermachern“ und damit als Brechen der Sabbatruhe gesehen wird.

Schon vor 2000 Jahren hat Jesus (oder die Person, die die zugehörige Geschichte ersonnen hat) den Gegensatz zwischen dem wörtlichen Ausleben einer Regel und dem Verfolgen des ursprünglichen Zwecks der Regelung verstanden und darauf hingewiesen: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Markus 2,23-28).

Gesetze

Ähnliche teilweise absurde Traditionen findet man natürlich auch in anderen Religionen und generell in kulturellen Bräuchen und Traditionen, z.B. auch im deutschen Rechtssystem. Besonders deutlich wird dies bei den Steuergesetzen, wo es viele Steuern gibt, die einmal für einen bestimmten Zweck eingeführt und erhoben wurden, der heute absolut nicht mehr gegeben ist. Bekanntestes Beispiel ist die Sektsteuer, die ursprünglich mal die deutsche Kriegsflotte finanzieren sollte.

Internet

Das Internet ist ein Bereich, wo alle Entwicklungen enorm beschleunigt ablaufen. Es ist also zu erwarten, dass der Effekt, dass irgendwann mal sinnvolle Regeln keinen Sinn mehr ergeben, hier gehäuft auftreten wird.

Bei E-Mails gibt es zum Beispiel einen Standard, der besagt, dass Textzeilen maximal 72 Zeichen lang sein sollen. Eingeführt wurde dieser, um E-Mails auf den damals vorhandenen Textbildschirmen mit maximal 80 Zeichen Spaltenbreite darstellen zu können. Heute hat jedes Gerät, das E-Mail-Inhalte darstellen soll, ausreichend Rechenpower (und die notwendigen Funktionen in Programmiersprachen sind ohne Aufwand umsetzbar), um gegebenenfalls einen sinnvollen Textumbruch auf dem Bildschirm je nach Platz automatisch durchzuführen.

Die Regel existiert trotzdem noch im Standard und tatsächlich wird heute einiges an Aufwand getrieben, um diesen Standard intern beizubehalten, es aber vor allen beteiligten E-Mail-Sendern und -Empfängern zu verstecken.

Datenschutz

Auch im Datenschutz ist diese Entwicklung zu beobachten. Die aktuellen Datenschutzgesetze entstanden in einer Zeit, als es Datenbanken nur in Serverräumen in Großunternehmen oder Universitäten gab und Datenaustausch zwischen entfernten Rechnern fast ausschließlich über dedizierte Leitungen oder den Versand von Magnetbändern oder gelochten Papierbahnen realisiert wurde.

Heute sammelt fast jede Privatperson auf ihren PCs, Laptops und Handys massenweise persönliche Daten. Viele Menschen bewegen sich mehrere Stunden pro Tag im Internet, um dort berufliche oder private Dinge zu erledigen. Mein Provider speichert für mich per IMAP massenweise private und geschäftliche E-Mails auf seinen Servern, ohne dass wir eine eigentlich nach Datenschutzrecht notwendige Vereinbarung getroffen hätten, wie mit diesen Daten umzugehen ist. Auch die Personen, die mit mir E-Mail-Kontakt haben, wissen nicht, wo ihre E-Mails letztendlich landen und physisch gespeichert werden.

Dass gängige Netz-Praktiken wie das Einbinden von Inhalten von fremden Servern deutschem Datenschutzrecht widersprechen, wurde ja bereits in einem anderen Blogpost besprochen.

Datenschutzerklärung

Besonders absurd ist die Sache mit den Datenschutzerklärungen. In der Piratenpartei macht dies aktuell gerade wieder die Runde. Wie schon in einem anderen Blogpost erwähnt, ist der Zugang zu Funkfeuer daran gebunden, dass eine Datenschutzerklärung unterschrieben und an die Bundesgeschäftsstelle der Piratenpartei gesendet wird. Da genau dieser Schritt aktuell nicht wirklich rund läuft, wird die praktische Einführung von Funkfeuer in der Breite dadurch verzögert.

Das Unterschreiben einer Datenschutzerklärung hilft aber dem eigentlichen Ziel des Datenschutzes, dem besseren Schutzes vertraulicher Daten kein bisschen. Natürlich wissen die Leute, dass sie mit den Daten vertraulich umgehen müssen. Die Tatsache, dass sie dies unterschreiben, unterstützt sie kein bisschen dabei, dies dann auch tatsächlich in der Praxis umzusetzen. Eine Schulung, ein Dokument, das die wichtigsten Basics erklärt oder andere Maßnahmen könnten das Ziel sehr viel besser erreichen.

Oder wie Jesus sagen würde: „Der Datenschutz ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Datenschutz.“

3 thoughts on “Tradition (Jesus, Judentum und Datenschutz)

  1. Und du hast recht. Deswegen heißt das Ding das unterschrieben wird ja auch nicht Datenschutzerklärung, sondern auch Datenschutzbelehrung. Das macht aber in der Partei fast jeder immer flasch – inklusiver mir. Von daher soll dieser Kommentar gar nicht gemein gegen dich gewandt sein 🙂

  2. Das mit den 72 Zeichen pro Zeile bei der E-Mail … zunächst muss man wissen, dass die Bildschirm die Simulation der 80-spaltigen Lochkarten vornahm (oft sogar eine unsichtbare 81. Spalte für den Zeilenumbruch hatte). Alternaiv gab es auch 132/136-spaltige Bildschirme die einen Druckerlisten-Layout nachbilden sollten. (druckende Terminals). Bei Lochkarten war es üblich die ersten 8 Stellen (von 80) als Kartenfolgennummer zu verwenden, denn so Lochkartenstapel konnten auch schon mal herunterfallen und wurden dann schnell in einem Kartensortierer wieder in die richtige Reihenfolge gebracht. Das hatte zur Folge, dass die ersten Bildschirm-Editoren auch dieses Modell der Zeilennummerierung verwendeten. So kommt man also auf 72 Zeichen pro Zeile. E-Mail bzw. Message-Systeme sind ja schon uralt – ich schätze mal 45 Jahre alt … ist mit der Einführung von Time-Sharing entwickelt worden.

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